Chelm – Rückblick und Beginn der Partnerschaft

Flag of Chełm

Ursprung und Beginn der Partnerschaft

Vor 18 Jahren kam erstmals eine Gruppe von Schülern und Lehrern aus Sindelfingen ans Stefan-Czarniecki-Lyzeum. Für uns alle bedeutete das zunächst eine Reise in ein unbekanntes Land zu unbekannten Menschen. Unbekannt, obwohl man besonders in Südwestdeutschland vor 170 Jahren den vertriebenen freiheitsliebenden Polen zugejubelt hat. Einer von ihnen führte damals die revolutionären badischen Demokraten gegen die preußische Militärmaschine. Später ist eben alles geschehen, um diese Verbundenheit vergessen zu machen.

Einige Empfindungen, die ich bei diesem ersten Besuch hatte, habe ich im Oktober 2000 versucht einzufangen.

Solidarität und Verständnis

In unserer Partnerschule geht es geschäftiger zu als am Goldberg-Gymnasium. Es gibt nur erwachsene Schüler der Oberstufe, die in den Pausen durch die Gänge ziehen und ihre Fachräume suchen. Die Wege sind labyrinthisch. Auf der Toilette findet sich der deutsche Kollege kaum zurecht. Der Zigarettenrauch ist wie Nebel: Er hustet und weiß nicht mehr, was er dort eigentlich will. Die polnischen Gastgeber geben sich resigniert: „Es gibt bei uns keine Raucherecke“.

Was soll überhaupt Perfektion? In Chelm erscheint uns das Straßenpflaster manchmal holprig. Viele Fassaden sind noch blass oder eingerüstet. Der freundliche Schutzgeist, weiß gewandet, der in den Katakomben des Kreidebergwerks unter der Stadt erscheint, erteilt Mahnungen und Rat, aber auf Polnisch. Dann wartet er auf die Übersetzung. Das dauert eine Weile, aber Improvisation ist alles.

Noblesse und Toleranz

Die Adelsfamilie der Zamojski hatte in der Nähe ein Schloss. Heute ist es Staatsbesitz, mit Sorgfalt restauriert, der Park hoch gepflegt. Das letzte Gemälde der Ahnenreihe zeigt die Familie um 1930: die Hausherrin, jung, vornehm, im hellen Kleid. Sicher, auch  hier wurde Personal ausgebeutet. Aber der Vorfahr Jan Zamojski hat in der Nachbarschaft die Renaissance-Stadt Zamosc gegründet. In ihr lebten Polen, Juden, Deutsche, Armenier, Griechen, Russen und Türken friedlich zusammen. Rosa Luxemburg ist dort geboren. Unter den Nazis sollte sie den Namen „Heinrich-Himmler-Stadt“ bekommen.

Tradition mit Mut zum Pathos

Alle zehn Jahre treffen sich im Stefan-Czarniecki-Lyceum die Ehemaligen. Ein Weißhaariger und ein Junger tragen die Fahnen der Schule zur Tribüne im Hof. Reden werden gehalten. Dann singen alle die Nationalhymne „Noch ist Polen nicht verloren…“

Am Abend geht man zum Schulball in der Sporthalle. Der Kollege vom GGS nippt muffig an seinem Wodka. Er liebt die Konversation, aber auf Deutsch, Englisch oder Französisch ist nichts zu erreichen. Die Gastgeberinnen haben sich zu ihren alten Abiturienten davongemacht. Da, der Lichtblick: Eine junge Dame fordert ihn zu einem Tänzchen auf. Nach der flotten Rock-Runde verabschiedet er sich mit der Verbeugung, die er in der Tanzstunde gelernt hat. Sie deutet lächelnd einen Knicks an.

Entsetzen und Mitleid 

Besichtigung des Konzentrationslagers Majdanek. Wir werden in die Häftlingsbaracken geführt. Von hier aus ging es für die Gedemütigten in die Gaskammern. Man zeigt an der Decke die Öffnungen, durch die das Gift geworfen wurde. An den Öfen des Krematoriums vorbei  schließlich zum Aschehügel mit den weißlichen Knochensplittern. Er hat vierzig Meter Durchmesser und ist mehrere Meter hoch. Heute liegt er unter einer Betonkuppel. Der herbstliche Ostwind ist kalt. Wenn die Hölle je auf die Erde kam, dann hier.

In Krakau gibt es die Judenstadt Kasimierz. Auf der Breiten Straße wurden Szenen für den Film „Schindlers Liste“ gedreht. In der Synagoge liegen elf Gebetbücher auf den Pulten. Sie gehören denen, die von 70 000 übrig geblieben sind. Am Abend trinken wir ein Bier in einer Wirtschaft, die aussieht wie Großmutters Wohnstube. Häkeldeckchen auf den Tischen, ein Sofa in der Ecke.  Drei  junge Leute spielen jiddische Klezmermusik. Es sind Polen, Studenten der Krakauer Musikhochschule.

Zeitlosigkeit

 Am Ufer des Bug läuft die Grenze zu Weißrussland. Inmitten von Wiesen liegt das Kloster des heiligen Onufrios unter alten Bäumen. Die orthodoxen Mönche beten seit 500 Jahren und ringen um die Vereinigung mit Gott. Der Fluss strömt unter den herabhängenden Ästen murmelnd  rasch vorbei. Bei Hochwasser wird der Platz des Klosters zur Insel.

Gastfreundschaft

 Wir hörten, die Goldbergler fühlten sich wohl bei ihren Gastfamilien. Es gab große Trauer beim Abschied. Die Verständigung ging auf Deutsch, Englisch, Französisch vor sich. Wenn die deutschen Lehrer doch schon so viel Polnisch gelernt hätten wie ihre Eleven! Am Abend trifft man sich unter Freunden zum Grillfest in einem frühherbstlichen Garten. Die Bewirtung ist üppig. Dann die Gesänge zu Gitarre und Akkordeon: „Wir versaufen unsrer Oma ihr klein Häuschen…“ auf Polnisch. „Kalinka“ weist nach Osten.

Das Wodkaglas wird aufmerksam immer wieder gefüllt. Heimlich lässt der undankbare Gast den Inhalt auf den Boden fließen. Im Gras fällt das nicht weiter auf.

Und jetzt:

 Beim gemeinsamen Besuch in Heidelberg im Frühjahr 2009 waren die polnischen Schüler und ihre deutschen Gastgeber nicht mehr auseinanderzuhalten. Sie waren nun e i n e Gruppe.

Die Spur dieser Erfahrungen, die die polnischen Freunde uns vermittelt haben, hat sich in den folgenden Jahren tief eingegraben. Sie führt weg von historischem Vorurteil und politischem Gezänk. Niemand darf die Katastrophen der Vergangenheit vergessen. Aber da ist für die Alten zum Glück die Chance, für die Jungen die Gewissheit des Neuanfangs bei einem offenen Zusammenleben in Europa.

Der Gemeinderat nimmt später die Anregung durch die Schule auf und begründet die Städtepartnerschaft.

Gerhard Böhm